Für unsere Homepage wurden von den Lehrerinnen und Lehrern unserer Rudolf Steiner-Schule in Wien-Mauer Texte verfasst, die diesen ganz speziellen pädagogischen Weg im Maurer Schlössl beschreiben soll.
Roman David-Freihsl
Die Schüler durchlaufen in den vier Oberstufenjahren ein weites Spektrum an Fächern, Projekten und Praktika, um sich umfassend, das heißt praktisch, künstlerisch und kognitiv, zu bilden. Der Ausgangspunkt in allen diesen Bereichen ist nach Möglichkeit immer die eigene Erfahrung, Wahrnehmung oder der eigene kreative Impuls. Von diesem fortschreitend gilt es in den praktischen und künstlerischen Fächern zu eigenen Gestaltungen zu finden beziehungsweise in den kognitiven Fächern zu Erkenntnissen, an deren Genese die Schüler selbst maßgeblich beteiligt sind.
Im Zentrum jedes Unterrichtes steht also mehr das Eindringen in ein Thema und die Auseinandersetzung mit diesem als die Vermittlung vorab ins Auge gefasster Resultate. Dadurch eröffnen sich dem Schüler vielfältige Möglichkeiten, selbst als Akteur aufzutreten. Seine Individualität und sein Einsatz bestimmen die Qualität der geleisteten Arbeit mehr als das Messen an Leistungsstandards.
Jede Oberstufenklasse wird von einem Tutor geführt, der die Klasse in mannigfaltiger Hinsicht betreut und in der Oberstufenkonferenz vertritt. Jedem Schüler beziehungsweise jeder Klasse steht aber auch die Möglichkeit offen, sich selbst mit einem Anliegen in die Oberstufenkonferenz einzubringen. Einige Klassen wählen dazu einen Klassensprecher.
Der Tutor steht den Eltern als Ansprechperson zur Verfügung. Pro Schuljahr finden etwa vier Elternabende statt, an deren Gestaltung Eltern und anlassbezogen auch Schüler mitwirken können.
Nach Ablauf des Schuljahres erhält jeder Schüler ein Verbalzeugnis, das seinen Einsatz und seine Entwicklung fächerspezifisch beschreibt. Darüberhinaus wird am Ende der 9. Klasse zusätzlich ein Notenzeugnis ausgestellt (Ende der Schulpflicht). Am Ende der 12. Klasse wird in Ergänzung zum Verbalzeugnis ein AHS-Notenzeugnis ausgehändigt, welches zum Eintritt in eine 4. Klasse einer Allgemeinbildenden Höheren Schule (AHS) berechtigt. Die Matura kann am Ende der 8. Klasse an einem Gymnasium eigener Wahl (Tages- oder Abendgymnasium) abgelegt werden.
Zu Beginn der 12. Klasse erhält jeder die Schüler die Chance, im Verlauf des Schuljahres über ein selbstgewähltes Thema forschend, das heißt nicht reproduzierend, zu arbeiten. Der Prozessverlauf sowie die Ergebnisse werden in einer schriftlichen Arbeit dargestellt und in einem Referat vor großem Publikum präsentiert. Je nach Thema und Individualität des Schülers kann der Schwerpunkt auch mehr in Entwurf und Umsetzung einer praktischen oder künstlerischen Arbeit liegen, welche entsprechend dokumentiert und präsentiert wird. Das hier beschriebene Projekt bildet, anstelle der Matura, die „Reifeprüfung“ als Abschluss der 12-jährigen Waldorfschulzeit.
Der vollständige Lehrplan (als PDF_File - 2MB) ist downloadbar beim Waldorfbund Österreich (Link: Lehrplan).
Die Muttersprache ist eines unserer ureigensten Instrumente, um uns selbst auszudrücken, und je älter die SchülerInnen werden, desto eigenständiger werden sie in ihren Urteilen, ihrer Sicht der Welt und sich selbst gegenüber. Daher bietet der Deutschunterricht an der Oberstufe mehr und mehr Gelegenheit zum reflektierenden Selbstausdruck und zur Erlangung der Meisterschaft über die eigene Sprache, wobei im Vordergrund das Selbsttätigwerden angeregt durch unterschiedliche Inhalte steht.
Es ist auch da wesentlich, wo sich die Schülerin, der Schüler in ihrer Entwicklung gerade befinden – denn die angebotenen Themen sollen diese ja begleiten und fördern:
Den Idealen der 9.KlässlerInnen werden die Biographien Goethes und Schillers zur Seite gestellt, mit all ihren Höhen und Untiefen; in der Epoche vom Lachen und Weinen verschaffen wir uns auch sprachlich die Möglichkeit, verschiedene Seeleneigenschaften auszudrücken, vor allem mit Humor – wer lernt, über sich und die Welt zu lachen und das auch auszudrücken, kann mit eigenen Unzulänglichkeiten und denen anderer leichter umgehen.
10.KlässlerInnen wollen in der Regel ganz nüchtern verstehen lernen, welche Gesetzmäßigkeiten wirken. Die Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied bietet hier die Möglichkeit zu Erkenntnissen, was in der Geschichte einer Gemeinschaft menschlich weiterbrachte beziehungsweise ins Verderben führte. In der Poetik-Metrik-Epoche lernen sie die unterschiedlichen Formen der künstlerisch gestalteten Sprache erkennen und der damit verbundenen Wirkung nachspüren. In eigenen Texten versuchen sich die SchülerInnen an den Ausdrucksmöglichkeiten der lyrischen Sprache, im Kellertheaterprojekt schlüpfen sie in unterschiedliche Rollen und erkunden so, wie sie Typen und Charaktere jenseits der eigenen Persönlichkeit erstehen lassen können.
In der 11.Klasse steht die Frage nach dem Individuum, dem eigenen Lebensweg im Mittelpunkt. Dieser Frage wird in der Parzival-Epoche ebenso wie in der Literaturepoche Rechnung getragen: Lebensfragen beschäftigen uns in der Literatur ebenso wie im eigenen Leben.
In der 12. Klasse krönen die Faust-Epoche und die Literatur-Überblicks-Epoche die Auseinandersetzung mit dem Ich in der Welt. Die SchülerInnen bekommen einen Eindruck, dass Menschsein schon immer das aktive, gestalterische Streben und Suchen im Hier und Jetzt bedeutet.
Der Deutschunterricht in den Oberstufenklassen umfasst pro Jahr jeweils zwei Hauptunterrichtsepochen sowie regelmäßig stattfindende Fachstunden.
In den Fachstunden erarbeiten wir uns immer anhand der lebendigen Sprache das Fachvokabular der Grammatik, lernen die unterschiedlichen Textgattungen kennen und verfeinern gezielt und in Anlehnung an den Epochenunterricht den Umgang mit der Sprache, wobei auch Raum geschaffen wird, für Projekte in anderen Gegenständen Texte zu verfassen beziehungsweise Parallelen zu den erlernten Fremdsprachen herzustellen. In der 12. Klasse wird die formale Erstellung der Jahresarbeit begleitet.
Der grundsätzliche Charakter des Mathematikunterrichtes der Oberstufe tritt prägnant in Erscheinung, wenn man ihn zum Beispiel an Formulierungen der PISA-Studie misst. Wie keine andere Maßnahme entfacht PISA seit nunmehr über einem Jahrzehnt die bildungspolitische und bildungsphilosophische Diskussion.
Zur mathematischen Grundbildung heißt es in PISA 2000:
Wie verhält sich dazu der Mathematikunterricht unserer Oberstufe? Skizzenhaft seien einige Gedanken formuliert:
Zentrales Anliegen unseres Unterrichtes ist das Verstehen mathematischer Ideen und der aus ihnen sich entwickelnden Gedankengebäude. Damit soll anklingen, dass Mathematik im Sinne Platons zweckfrei als Erkenntnisweg verstanden und gepflegt wird. Eine in diesem Sinne betriebene Mathematik gleicht mehr der Kunst, die frei von unmittelbaren Nutzanwendungen ihren Wert gerade durch diese Eigenschaft erhält. PISA hingegen liegt ein engerer, streng funktionaler Bildungsbegriff zugrunde. Dies zeigt sich, wenn von einem Anwenden „mathematischer Konzepte und Modelle“ auf „kontextbezogene Probleme“, beziehungsweise „alltägliche Problemstellungen“ die Rede ist. Hier handelt es sich um die Instrumentalisierung einer auf Modelle reduzierten Mathematik. Es erscheint als schlüssig, dass der Auftrag zu PISA von der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) erteilt wurde. Selbstverständlich werden im Mathematikunterricht unserer Oberstufe auch Alltagsprobleme gelöst, aber erst an zweiter Stelle, während an erster Stelle die Schulung der freien Beweglichkeit des Geistes steht. So ergibt sich eine Korrespondenz zu dem Zitat Rudolf Steiners, welches dem Leitbild unserer Schule vorangestellt ist und eine der Kernintentionen der Waldorfpädagogik zusammenfasst.
Übereinstimmung mit PISA besteht darin, dass Anwendungsaufgaben, deren Lösung Flexibilität, also Transferfähigkeit, verlangt, vorzuziehen sind gegenüber solchen, deren Lösung festen Schemata folgt.
Übereinstimmung herrscht ferner mit dem zweiten oben angeführten Punkt, wonach Mathematik „als ein wesentlicher Inhalt unserer Kultur angesehen“ wird, „gewissermaßen als eine Art von Sprache …“. Die Erschließung aller Inhalte geht (bis hin zur 12. Klasse) stets von der Anschauung aus. Im Zuge der daran anschließenden Abstraktion erfindet die Mathematik, wie jede Wissenschaft, eine spezielle Wissenschaftssprache. Die didaktische Herausforderung besteht nun aber darin, auch komplexe und komplizierte Sachverhalte zunächst allgemeinverständlich in der Umgangssprache auszudrücken und die Wissenschaftssprache erst im Nachhinein dazuzustellen. Pointiert bemerkt Niels Bohr: „Wer einen Sachverhalt nicht allgemeinverständlich auszudrücken vermag, hat ihn eigentlich noch nicht verstanden.“
Die für das vierzehnte bis fünfzehnte Lebensjahr beschriebenen allgemeinen Kompetenzen, die bis zum Übergang in die Oberstufe (sechzehntes Lebensjahr) zu erwerben sind, werden im Verlauf der neunten Klasse weiter entwickelt. Insbesondere sind die zur Verfügung stehenden Denkkräfte im Dienste einer bewusst geführten Urteilsbildung in den einzelnen Fächern weiter zu entfalten.
Der Geschichtsunterricht der Rudolf-Steiner Schulen in Österreich hält sich inhaltlich weitgehend an den Lehrplan der staatlichen Schulen, aus Rücksicht auf die entwicklungspsychologischen Grundlagen wird jedoch teilweise von einem chronologischen Vorgehen abgesehen, um auf die seelische Entwicklung der SchülerInnen eingehen zu können. Der Geschichtsunterricht soll helfen, die inneren Fragen der jungen Menschen zu beantworten und Verständnis für die Welt von heute zu entwickeln.
Der naturwissenschaftliche Unterricht versteht sich als ein Dialog mit der Natur oder, um es anders auszudrücken, als ein Zwiegespräch des Menschen mit der Natur. Damit ist gesagt, dass die Natur, deren Gesetze es zu erforschen gilt, in einem partnerschaftlichen Verhältnis zum Menschen gesehen wird.
Den Ausgangspunkt jedes Unterrichtes bildet das Phänomen, da sich nur durch dieses die Natur mitteilen kann. Während die Natur durch das Phänomen spricht, lauschen die Schüler mit allen ihren Sinnen, sodass sich noch vor jeder Betätigung der Ratio Affekte, Gefühle und Fragen bilden können. Emotionen und Neugierde sind die größten Lernverstärker, wie von Gehirnneurologen bestätigt wird. Anders formuliert: sie sind so wichtig, weil sie am nachhaltigsten eine Beziehung zum Gegenüber, hier der Natur, stiften können. Zwischen der Wahrnehmung des Phänomens und dessen gedanklicher Durchdringung wird ein zeitlicher Abstand eingeschoben, damit sich die Eindrücke klären können, Fragen nachreifen, Antworten vorreifen können. Die Antworten schließlich werden nicht vom Lehrer gegeben, sondern in einem nachvollziehbaren Prozess gemeinsam mit den Schülern oder im Idealfall von diesen selbst entwickelt. Die Abstraktionen, die damit einhergehen, vermeiden nach Möglichkeit den Rückgriff auf Modelle, um einer Überfremdung des Phänomens durch die Konstruktionen des menschlichen Verstandes entgegenzutreten. Werden dennoch Modelle hinzugezogen (in den höheren Klassen), geschieht dieses nicht unterschwellig, sondern bewusst und unter Thematisierung der Chancen, aber auch der Gefahren, die darin liegen.
Wissenschaft ist dadurch definiert, dass auf die Wirklichkeit mit einer spezifischen Methode geblickt wird. Wie Wissenschaft die Wirklichkeit beschreibt, hängt daher von der gewählten Methode ab. Jede Erkenntnis erscheint somit als Funktion einer bestimmten Technik , was immer auch eine bestimmte Art des Fragens impliziert.
Die oben beschriebene Methode, auf die Wirklichkeit zu blicken, ist eine phänomenologische. Ergänzt um didaktische Aspekte heißt das:
Der Pädagoge Hartmut v. Hentig schreibt: „Die Wissenschaften, die Naturwissenschaften zumal, nehmen in unserer Welt eine Schlüsselfunktion ein. Die Wissenschaften haben die Welt chiffriert; ohne Kenntnis der Chiffren verstehen wir die Vorgänge nicht.“ In der 12. Klasse, der Abschlussklasse, wird anhand des Unterrichtsstoffes auch die Entwicklung wissenschaftlichen Erkennens zum Gegenstand der Reflexion gemacht. In einem Prozess des Nachdenkens über Wissenschaft formt sich, „anders als in der wissenschaftlichen Forschung selbst, ein philosophisches und also freies Verhältnis zu ihr.“
Autonomie und Persönlichkeit als Ausdruck von Ich-Kompetenz bilden den Zielpunkt des Erwerbs von Selbstkompetenz und stellen gleichzeitig den Auftrag zu lebenslangem Üben, den dieses Ziel kann nicht ein Ziel nur einer Lebensphase des Menschen sein!
Am Ende der Schulzeit kann sich die erworbene Selbstkompetenz der jungen Menschen darin zeigen, dass sie im kulturellen und gesellschaftlichen Leben einen Standpunkt einnehmen und das eigene „Darinnenstehen“ in den Fragen der Gegenwart bewusst erleben und daraus handeln. So zeigen sie Bereitschaft, Verantwortung gegenüber der Welt, der Gesellschaft und sich selbst zu übernehmen. Aus dem Vermögen, Fragen an das Woher und Wohin von Erde
und Mensch zu formulieren und zu bearbeiten entsteht der Impuls, die Welt von morgen aus dem heute zu entwickeln. Die Fähigkeit, Bewusstsein für Entwicklung in die Überlegungen einzubeziehen, Problembewusstsein zu zeigen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln setzt voraus, dass Multiperspektivität im Denken und Handeln angewandt werden kann. Die Waldorfpädagogik spricht hier von „individualisierte Urteilsfähigkeit“.