Sozialkompetenzen im 9. und 10. Schuljahr

Die für das vierzehnte bis fünfzehnte Lebensjahr beschriebenen allgemeinen Kompetenzen, die bis zum Übergang in die Oberstufe (sechzehntes Lebensjahr) zu erwerben sind, werden im Verlauf der neunten Klasse weiter entwickelt. Insbesondere sind die zur Verfügung stehenden Denkkräfte im Dienste einer bewusst geführten Urteilsbildung in den einzelnen Fächern weiter zu entfalten.

Die Intelligenzentwicklung steht auf einem Höhepunkt der Entwicklung in Bezug auf die logisch-mathematische Intelligenz. Hier ist im Verlauf der neunten Klasse insbesondere in der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern die Führungskompetenz dieser Form des Denkens an streng gesetzmäßigen Regeln, die aber zunächst hergeleitet und verstanden werden müssen, sowie an wirklichkeitsnahen Verhältnissen in Natur und Technik zu entwickeln. Die hier bis zum Ende der neunten Klasse auszubildende und zu entwickelnde Kompetenz kann als „praktische Urteilskraft“ bezeichnet werden. Nicht umsonst werden in den meisten Waldorfschulen in den Klassen 8 und 9 Praktika durchgeführt, durch die die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit bekommen, praktische Aufgaben in Wald und Landwirtschaft auszuführen.

Seelische Selbständigkeit wird in Rollenspiel und Gruppenprozessen erprobt. Leitideen kündigen sich an, werden ergriffen, aber erst selten durchgetragen. Argumente, ein oft schon differenziertes Urteilsvermögen bewegen den Jugendlichen genauso wie immer noch pauschale Werturteile über Weltfragen. Selbstüberschätzung im Urteil ist ebenso möglich wie im nächsten Moment ein überraschendes Verantwortungsgefühl im Umgang mit Mitmenschen. In dieser Zeit leben Fragen in den Jugendlichen, die sie eher unbewusst in sich tragen, die dadurch jedoch kaum oder nur ungeschickt formuliert werden können. Auf solche Fragen einzugehen, ist Aufgabe der Lehrerin bzw. des Lehrers. Gelingt dies, können die Jugendlichen Sinn, und daraus Stärkung in ihrer Lebenssicherheit gewinnen. Dies lässt sich kaum in „Kompetenzen“ fassen, – am ehesten wäre dies unter „Selbstkompetenz“ einzuordnen -, ist auch nicht testbar, aber gleichwohl ein wichtiges Element ihrer inneren Bildung für das spätere Leben. Ein Beispiel hierfür sind Fragen, wie sie heute von Jugendlichen auch ausgesprochen werden: Bin ich ein Produkt meiner Eltern, deren Gene? Wer bin ich selbst? Was ist „Schicksal“? Solche Fragen können etwa in der elften Klasse durch die Vererbungslehre und die Embryologie in der Biologie, oder durch die Geschichts- und Deutsch-Epochen, in denen am Beispiel des Parzifal Schicksalsfragen, Fragen der Identität, Individualität und Entwicklung behandelt werden, Antworten finden.

In dieser immer noch brodelnden Situation ihres jungen Lebens möchten Jugendliche Lebenssicherheit gewinnen. Fragen über Leben und Tod oder über Krankheit und Gesundheit, über Partnerschaft bewegen sie mehr oder weniger bewusst, und oft werden Erlebnisse gesucht, die an die Grenzen der Belastbarkeit des eigenen Körpers führen.

Damit kann die zu entwickelnde Sozialkompetenz so umrissen werden: Wie im persönlichen Bereich sind im Bereich des Lernens und Arbeitens Beziehungen zu anderen bewusst zu ergreifen und zu gestalten (nur ein Teil davon wird mit dem Begriff „Teamfähigkeit“ erfasst) auf der Grundlage einer Wertschätzung des anderen (ethische Autonomie).

Im erweiterten Sinn sind Kompetenzen wie Flexibilität des Denkens, Transferfähigkeit u. a. für Fragen des ethischen Umgangs mit den Mitmenschen und der Natur im Hinblick auf Folgen des sozialen, technischen und wirtschaftlichen Handelns elementar wichtig. Die Schulung der sinnlichen Erlebnisfähigkeit, die die Waldorfpädagogik anstrebt, leistet einen Beitrag zur Überwindung der Abstraktionsferne von den Gegenständen unserer Umwelt und kann so die Kultur der seelischen Erlebnisfähigkeit, Distanzüberwindung und Bezugsfähigkeit unterstützen. Verschiedene Motive, Themen und Fragestellungen begleiten die Schülerin und den Schüler auf seinem Weg der Loslösung von Elternhaus und Gruppenbindungen unterstützend (siehe dazu die inhaltlichen Angaben zu den Fächern in den folgenden Abschnitten).

Als wesentliche soziale Kompetenz, die die Schülerinnen und Schüler in dem beschriebenen Zeitraum erwerben, kann die Objektivierung und Entwicklung eines gesunden Ich-Welt-Verhältnisses genannt werden. Diese schafft die Fähigkeit, sich von sozialem Druck oder Handlungen abzugrenzen, die man nicht mit vollziehen will. Dazu gehört zum Beispiel, die körperlich-seelisch unterschiedlichen Erlebnishaltungen des weiblichen und männlichen Menschen als fortlaufenden Entwicklungsprozess zu erfassen, um daraus einen respektvollen Umgang mit Menschen des anderen Geschlechts zu leisten. Dies beinhaltet wiederum seelische und soziale Prozesse mit den Aspekten: Hören auf sich selbst und auf die Partner/Partnerin), Begegnungsfähigkeit, Empathie, Hinwendung, Sorge, Zärtlichkeit, Kommunikation, Beziehungsfähigkeit, Höflichkeit und Achtung.

Die Entwicklung von sozialen und kommunikativen Kompetenzen schafft so eine innere Beweglichkeit, die es ermöglicht, verschiedene Standpunkte einnehmen, als Gesprächskompetenz begründete Urteile zu formulieren, die gestalterischen Mittel der Sprache als Elemente der eigenen Ausdrucksfähigkeit/ Kommunikationsfähigkeit zu erfahren und bewusst(er) einzusetzen.

Die Wahrnehmung der anderen Individualität und deren Fähigkeit ermöglicht auch, die eigene Persönlichkeit in die Gruppe einzubringen und so in kleinen Gruppen in der Gestaltung gemeinsamer Prozesse aktive und passive Kritikfähigkeit zu erwerben bzw. anzuwenden, z.B. beim Vortrag eines persönlich gefärbten Textes oder Gedichts der Bewertung durch andere standzuhalten.

Das Verständnis für die anderen und für das andere erfordert Toleranz beim Zuhören und Öffnung in gemeinsamer Arbeit. Durch Selbstorganisation im Team und die Einbeziehung der Ergebnisse (z.B. Präsentationen) anderer für eigenes Lernen kann das Lernen von und mit Mitschülerinnen und -schülern zur Teamfähigkeit führen.

Am Ende dieser Prozesse steht dann die Fähigkeit zu konstruktiver Evaluation der Leistung anderer und sachgemäßer Wiedergabe dieser Evaluation, es steht hier aber auch die Fähigkeit zur sachgemäßen Beurteilung der eigenen Leistung und der Realisierung der eigenen Fähigkeiten und Grenzen, die bereits den Bereich der Selbstkompetenz eröffnen.

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.